Proteste und Gewalt auf dem Höhepunkt der dritten Covid-Welle

(Dieser Artikel ist auch auf der Webseite der Stiftung Presencia publiziert)

Polizeiabsperrungen (Bild: M. Schäfer)
Polizeiabsperrungen (Bild: M. Schäfer)

Trotz rekordhoher Corona-Fallzahlen und vollen Spitälern gehen Kolumbianerinnen und Kolumbianer seit Tagen in den grossen Städten des Landes auf die Strasse. Ihre Unzufriedenheit mit der Politik ihrer Regierung ist grösser als die Angst vor dem Virus.

Worum geht es?

Kolumbien kämpft mit einer gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Krise. Armut, Arbeitslosigkeit und Ungleichheit sind seit Pandemiebeginn massiv gestiegen. Die kolumbianische Wirtschaft schrumpfte letztes Jahr um 7 Prozent, der grösste Rückgang seit einem halben Jahrhundert. Die Armut wuchs von 36 auf 43 Prozent und die Arbeitslosigkeit liegt im Schnitt bei 17, in einigen Regionen bei über 20 Prozent.

Viele Herausforderungen

Dazu kommt die Flüchtlingskrise mit rund zwei Millionen Geflüchteten aus Venezuela im Land und wenig Unterstützung von der internationalen Gemeinschaft. Und natürlich das Coronavirus: Impfkampagnen sind seit Mitte Februar im Gang, aber die Impfstofflieferungen treffen nur tröpfchenweise ein, während andere Länder Südamerikas wie Chile bereits viel mehr Menschen impfen konnten. Die dritte Welle trifft jetzt Kolumbien mit ganzer Härte.

Im Zentrum des Sturms: die Steuerreform

Die Regierung Duque will mit einer Steuerreform – deren Notwendigkeit im Grundsatz unbestritten ist, aber der Zeitpunkt denkbar schlecht – neue Mittel beschaffen und so das Finanzloch stopfen, das die Pandemie gerissen hat. Teil der Reform ist auch mehr Unterstützung für die Ärmsten sowie ein Fonds für Umweltschutz.

Mehreinnahmen auf dem Buckel der Ärmsten

Die Reform belastet jedoch stark die Mittel- und Unterschicht, indem zum Beispiel die Mehrwertsteuer von 19% auch auf Grundnahrungsmittel erhoben werden soll und auf die Wasser-, Strom- und Gasversorgung. Auch soll die Grenze für steuerbefreite Einkommen heruntergesetzt werden. Über 70% des neuen Geldes soll aus den Taschen der Privatpersonen kommen, nur ein kleiner Teil aus der Wirtschaft. Nicht nur die Ärmsten protestieren in der Angst, dass ihnen noch weniger zum Leben bleibt. Auch viele aus der Mittelklasse befürchten, dass diese Reform sie in die Armut treiben wird.

Friedliche Mehrheit, aber Gewalt am Rande

Die grossen Gewerkschaften bestimmten den 28. April als nationalen Streiktag. Auch ein kurzfristiger richterlicher Beschluss, der die Demonstrationen wegen der Pandemie verbieten wollte, konnte die Organisatoren nicht umstimmen. Neben den Gewerkschaften beteiligten sich auch Studenten, indigene Gruppen, Künstler und viele andere Gruppen und Organisationen an den Protestmärschen. Die meisten Protestkundgebungen verliefen friedlich. Aber es kam auch zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten, die Tote und Verletzte forderten. Der massive, unverhältnismässige Gewalteinsatz der Esmad, der Aufstandsbekämpfungseinheit der kolumbianischen Nationalpolizei, wird international verurteilt.

Opferzahlen unklar

Bei den Protesten der letzten Tage sind – gemäss offiziellen Zahlen – 20 Menschen ums Leben gekommen, über 800 wurden verletzt, 87 sind verschwunden. Besonders betroffen ist die drittgrösste Stadt Cali. Die Zahl der Toten im Land wird weiter steigen und dies nicht nur, weil die Proteste andauern. Verschiedene Quellen sprechen schon jetzt von über dreissig Toten und viel mehr Verletzten. Ausserdem wird von Attacken gegen die Presse, sexueller Gewalt der Polizei gegenüber Festgenommenen sowie Folter berichtet. Klar sichtbar sind die enormen Sachschäden, die auch von Gruppen stammen, die das Chaos für ihre Zwecke ausnützen: angezündete Busse, zerstörte Haltestellen, eingeschlagene Scheiben, geplünderte Geschäfte etc.

Was haben die Proteste bewirkt?

Am 2. Mai zog Präsident Duque die Reform zurück. Er sucht nun den Dialog mit allen Beteiligten, um einen stärker auf Konsens ausgerichteten Reformvorschlag auszuarbeiten. Als ersten Schritt hat er nach dem Rücktritt des Finanzministers einen neuen Verantwortlichen für die Reform eingesetzt. Aber elf Monate vor den nächsten Präsidentschaftswahlen hat er mit diesem ungeliebten Thema einen politisch schweren Stand.

Die Proteste gehen weiter

Trotz dieser Dialogbereitschaft gehen die Menschen auch in den nächsten Tagen weiter auf die Strasse. Der nächste nationale Streiktag ist heute. Die Steuerreform hat ein Fass wieder zum Überlaufen gebracht, das schon lange übervoll war. Die aktuellen Proteste sind denn auch die Fortsetzung der grossen Demonstrationen von Ende 2019, bei denen es unter anderem um die verschleppte Umsetzung der Friedensverträge mit der FARC-Guerilla ging, das marode Pensions-, Gesundheits- und Bildungssystem sowie die grossen wirtschaftlichen Ungleichheiten im Land. 2021 sind noch mehr Themen dazugekommen. Kolumbien wird – trotz Pandemie – so schnell nicht zur Ruhe kommen.

One thought

  1. Die schwierige Lage in Kolumbien wird sogar in den hiesigen Zeitungen kommentiert. Die Pandemie ist eigentlich überall zu einem Auslöser von schwelenden Konflikten geworden.

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