
Mein Freund Santiago, der an den Wochenenden in der Kathedrale arbeitet, ist schüchtern und liebenswürdig. Er studiert Darstellende Kunst an der Universidad de Caldas. Die Studenten erarbeiten regelmässig Theaterstücke, die auf der Probebühne des Standorts Bellas Artes gratis aufgeführt werden.
Dort sah ich Santiago als Bestie, die auf der Bühne wütete und ein ganzes Dorf so lange abscheulich quälte, bis die Gewalt ihn im wahrsten Sinn des Wortes auffrass. Bei aller Bewunderung macht mir diese Fähigkeit zum Rollenwechsel auch etwas Angst. Wer schon einmal erlebt hat, dass Menschen auch im richtigen Leben plötzlich oder langsam andere werden, weiss, was ich meine. Es ist gruselig. Zum Glück verwandelte er sich noch beim Schlussapplaus ohne Nebenwirkungen wieder zurück.
Das Stück dauerte 2.5 Stunden, hatte keine Pause, dafür viele Dialoge in altem Spanisch. Die Jung-Schauspieler lieferten eine Glanzleistung ab. Das Publikum auf Miniaturstühlen im vollbesetzten Raum auch. Nur einer flüchtete, alle anderen hielten bis zum Schluss durch und applaudierten mit letzter Kraft, bis die Hände ebenso wund waren wie die Rücken. Kunst schafft das.