Ein Monat der Wut, Trauer und Blockaden

Spuren der Proteste (Bild: M. Schäfer, Textrakt)
Spuren der Proteste: Als Mahnmal wurden Umrisse und Namen Getöteter auf die Strasse gemalt (Bild: M. Schäfer)

Seit genau einem Monat wird in Kolumbien heftig protestiert. Heute Freitag ist wieder einer der grossen nationalen Streiktage. Es wird nicht der letzte sein.

Die Proteste beschränken sich nicht auf einige wenige Regionen und Grossstädte. Auch in kleineren Städten und Ortschaften gehen die Menschen auf die Strasse. Jetzt ist ihr Moment, um die Sorgen herausschreien, anstatt sie schweigend zu erdulden.

Es kommen mehr und mehr Themen auf den Tisch: schlechte Arbeitsbedingungen und Infrastruktur, hohe Arbeitslosigkeit und Verarmung, Gesundheitsversorgung, strukturelle Ungleichheit, Perspektivenlosigkeit der Jugend, die vielen Morde an Umwelt- und Menschenrechtsaktivisten, die Vernachlässigung der Minderheiten, sexuelle Gewalt, Rücktritt des Präsidenten… Die Proteste haben an Wucht in den letzten Wochen eher zugenommen.

Einer der Hauptgründe dafür ist die Polizeigewalt. Nichtregierungsorganisationen sprechen von über 60 Toten, über 1000 Festgenommene oder Verschwundene, unzählige Verletzte. Der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (IAKMR) der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) wird noch immer der Zugang zum Land verwehrt. Man wolle die Fälle von Menschenrechtsverletzungen zuerst selbst aufarbeiten, argumentierte Vizepräsidentin und designierte Kanzlerin Marta Lucía Ramírez. Sehr glaubwürdig ist das nicht, wenn man bedenkt, wie gering die Aufklärungsraten in ähnlich gelagerten Fällen sind. Trotzdem bleibt die internationale Aufmerksamkeit sehr gering.

Die allermeisten Proteste verlaufen friedlich und die Kreativität, mit der Kritik geübt wird – durch Verkleidung, Tanz, Text, Musik, Theater, Gemaltes und mehr –, ist eindrücklich. Aber wer ist verantwortlich für die Gewaltexzesse? Zum einen sind es kleine Gruppen vor allem junger Menschen, die ihrer Wut durch Zerstörung Ausdruck geben. Die berüchtigte Aufstandspolizei ESMAD ist ihr Feindbild, deren Auftauchen provoziert.

Zum anderen gibt es Fälle, Hinweise, Geschichten und Theorien, in denen Guerilla, Paramilitärs, Drogenbanden, Venezuela, die politische Linke, die politische Rechte und Polizisten in Zivil eine Rolle spielen, um die Gewalt anzufachen. Auch in weiss gekleidete, teils bewaffnete Gruppen aus der Oberschicht nehmen eine Rolle ein. Tatsache ist, dass Chaos und brennende Barrikaden der rechten Regierung bis zu einem gewissen Grad in die Hände spielen. So legitimiert sie den brutalen Polizeieinsatz und erhöht ihre Chancen in den Wahlen 2022.

Interessant ist die «Primera Linea». So heisst die vorderste Reihe eines Protestzugs, die der Polizei gegenübertritt. Da stehen nicht nur Junge hinter selbst gebastelten Schilden wie römische Legionäre auf dem Feldzug. Es gibt auch Grossmütter, Mütter, Kirchenleute, Lehrerinnen und Lehrer, Begleitpersonen der Stadtverwaltungen, Menschenrechtsbeobachter und andere, die auf diese Art versuchen, den friedlichen Protest zu garantieren und weitere Tote zu verhindern.

Vor allem die Jungen werden nicht so schnell aufgeben. Man hört, dass sie mancherorts bei den Protesten mehr und besser essen als in ihren verarmten Familien. Wer kaum etwas zu verlieren hat, geht höhere Risiken ein.

Die Regierung verhandelte mit dem Streikkomitee, das zumindest einen Teil der Interessen auf der Strasse vertritt. Aber Resultate gibt es noch keine. Weitere Verhandlungen macht Präsident Duque von der Aufhebung der Strassenblockaden abhängig. Die Lastwagenfahrer, die unter anderem gegen hohe Strassenzölle und teures Benzin protestieren, nehmen im Protest eine Schlüsselposition ein. Teilweise sind sie selbst Grund der Blockaden. Gleichzeitig sind sie am meisten davon betroffen.

Und was tun und meinen jene Teile der Bevölkerung, die sich nicht an den Protesten beteiligen? Die Gewalt, egal von welcher Seite, wird stark verurteilt. Sehr viele stehen aber hinter den Demonstrationen, weil sie genau wissen, dass die Gründe dafür mehr als berechtigt sind.

Aber es wird auch viel Kritik laut: Die Strassenblockaden und die unsichere Lage schaden der Wirtschaft und gefährden die bereits von der Pandemie dezimierten Arbeitsplätze. Gewisse Güter sind nicht mehr oder nur schwer erhältlich, die Preise für Nahrungsmittel steigen. Die Leute bleiben eher daheim und gehen weniger aus. Ein Taxifahrer hat mir erzählt, dass nicht einmal der Lockdown seinem Geschäft so stark geschadet habe wie nun die Proteste. Auch der Tourismus wird ausgebremst und Familien können sich nicht treffen.

All dies zehrt an den Nerven. Nur Corona wütet unbeeindruckt weiter.

One thought

  1. Das ist eine ganz schlimme Situation. Auch in der Schweiz wird davon gesprochen, in den Zeitungen auch im Radio. Wie kommt man aus so einer verahrenen und gefährlichen Lage wieder heraus?
    Das ist die grosse Frage.

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